Wer braucht schon Autos?

In der Coronakrise dreht sich die Wirtschaft um 180 Grad

Erschienen in: Der Freitag am 22. März 2020

Die Welt befindet sich in einer beispiellosen Lage, sagte UN-Generalsekretär António Guterres Mitte März. Da stand die Pandemie in Deutschland noch ganz am Anfang. Die üblichen Regeln, so Guterres, hätten keine Gültigkeit mehr: „Covid-19 tötet Menschen und greift das Herz unserer Realwirtschaft an – Handel, Lieferketten, Unternehmen, Arbeitsplätze.“ Die „üblichen Regeln“, die angesichts der Corona-Krise außer Kraft gesetzt werden, sind jene des Marktes. Eine der Regeln ist, dass private Unternehmen nur das herstellen, was sich – voraussichtlich – mit Gewinn verkaufen lässt.

Eine Frage nach den Regeln des Marktes lautet zum Beispiel: Kann ich meine Arbeiterinnen und Arbeiter an meinen Produktionsanlagen in der Coronakrise Medikamente herstellen lassen, für die es ausreichend zahlungsfähige Konsumenten gibt? Sodass sich mein eingesetztes Kapital vermehrt? Diese Frage scheint bedürfnisorientiert, ist es bei genauem Hinsehen aber nicht, denn bedürfnisorientiert würde sie lauten: Können wir gemeinsam ein Medikament herstellen, das Krankheiten heilt und allen unabhängig von ihrer sozialen Stellung zugänglich ist?

Viele der politischen aber auch privatwirtschaftlichen Maßnahmen, die derzeit ergriffen werden, ordnen sich einem solchen bedarfsorientierten Ziel unter: der Bekämpfung der Pandemie. Private Gewinnerzielung, die gepriesene ökonomische Effizienz des Marktes? Konkurrenz? Vorübergehend geschlossen.

Am Gemeinwohl orientiert

Manch einer sieht hierin die Chance für eine gemeinwohlorientierte Ökonomie aufscheinen. Und ja, man könnte darauf kommen, wenn zum Beispiel Carsten Spohr, Vorstandsvorsitzender der Lufthansa, auf der Bilanzpressekonferenz vor wenigen Tagen mitteilt, dass nun die Politik entscheiden müsse, welche Grundversorgung an Flügen gebraucht wird: „Denn aus kommerzieller Sicht ergibt Fliegen zu dieser Zeit keinen Sinn mehr.“ VW pausiert mit der Autoproduktion, die Telekom erhöht gratis ihr Datenvolumen, Netflix und Youtube drosseln ihr Streaming, um das Netz nicht zu überlasten, Zeitungen entfernen die Paywall, im Netz kursieren Aufrufe für 3D-Drucker, mit denen Sauerstoff-Ventile hergestellt werden können.

In Supermärkten zählt nicht mehr allein die individuelle Kaufkraft, sondern der gesellschaftliche Bedarf: Toilettenpapier und Nudeln werden kontingentiert, damit die Grundversorgung für alle gleichermaßen gewährleistet bleibt. Krankenpflegepersonal soll unkonventionell aufgestockt werden durch die Einbindung von ehemaligen Zivildienstleistenden. Leute aus der Gastronomie oder um Asyl suchende Menschen, so überlegt die Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner, könnten zu den Landwirten aufs Feld, um zu helfen: Spargel und Rhabarber sind erntereif, die Hilfsarbeiterinnen aus Osteuropa bleiben aus, wegen geschlossener Grenzen. Wirtschaftsminister Peter Altmaier will das Kartellrecht lockern, damit Handelskonzerne im Lebensmittelbereich sich besser untereinander abstimmen können.

Und auch das gibt es: Trotz Liquiditätsengpässen und einem Aktienmarkt auf Sinkflug prüfen Konzerne, ihre Produktion zeitweise auf dringend benötigte Güter umzustellen. General Motors und Ford untersuchen, ob sie nicht auch Beatmungsgeräte produzieren könnten, ein Matratzenhersteller und ein Display-Produzent stellen um auf Mundschutzmasken, ein Parfümhersteller auf Desinfektionsmittel. Natürlich: Ganz selbstlos wird das nicht sein, man hofft darauf, am Ende von der guten Tat zu profitieren.

Oder: Kriegswirtschaft

Der freie Markt, so scheint es, ist nicht nur in Quarantäne geschickt, sondern erleidet darüber hinaus einen erheblichen Imageverlust. Gesundheitsminister Spahn zieht Freihandel und Globalisierung in Zweifel, in dem er kritisiert, dass lebenswichtige Medikamente nur noch in China hergestellt werden. Generell, so sagt er, „brauchen wir eine geringere wirtschaftliche Abhängigkeit von den Lieferketten in China“. Kommentiert wird das im öffentlich-rechtlichen Fernsehen als Korrektur einer „jahrelangen Fehlentwicklung“, Produktion soll wieder nach Europa geholt werden.

Auch Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, lässt keinen Zweifel an den Nachteilen des Marktes, wenn er über das deutschlandweit derzeit sicher wichtigste Institut sagt, es habe „mehrere Vorteile, wir stehen nicht in einem Wettbewerb, wie das andere tun, um bestimmte Incentives, um Drittmittel, wir stehen nicht im Wettbewerb mit kommerziellen Anbietern, das ist der Grund, warum es so einen Laden wie unseren überhaupt gibt“.

Was man an all dem sieht: Gibt es ein klar definiertes, gesamtgesellschaftliches Ziel, können Produktionskapazitäten auch im Kapitalismus nach anderen Kriterien als jenen des Profits festgelegt und die Verteilung der entsprechenden Güter koordiniert werden, sogar global. Das ist alles andere als überraschend. Man kennt das aus Kriegszeiten. US-Präsident Donald Trump wies schon darauf hin, dass er Notfallbefugnisse ergreifen könne, um das Kommando über die Produktion im Land zu übernehmen. Geregelt ist das im Defense Production Act, ein Gesetz aus der Zeit des Koreakrieges. Die Frage ist daher nicht so sehr das Ob oder das Wie, sondern das Wozu. Das Wozu ist in einer kapitalistischen Welt überdeutlich: Wirtschaftswachstum. In einer Krise wie der Corona-Pandemie ist es die Heilung Kranker und die Rettung von Menschenleben. Aber natürlich existieren weiterhin Profiteure und Geschäftemacher, auch jene, die aus der Not einen Gewinn schlagen, wenn beispielsweise Mangelware wie Atemmasken zu horrenden Preisen verkauft werden.

Der Staat macht angesichts der Krise eine Kehrtwende um 180 Grad. Haushaltsdefizit, Staatsverschuldung? Darüber reden wir später, so die Kanzlerin. Eines dürfte sicher sein: Aufgebürdet werden die Folgen der staatlichen Maßnahmen zur Rettung der Wirtschaft am Ende wieder jenen, die am mittleren und vor allem untersten Ende der Nahrungskette stehen. Ziemlich sicher werden die dazu gehören, die jetzt zu den sogenannten systemrelevanten Gruppen gezählt werden, die dafür sorgen, dass die Grundversorgung, auch die medizinische, aufrechterhalten bleibt. Es sind oft jene, die nicht im Homeoffice sitzen können, die mit den niedrigeren Einkommen. Es sind auch jene, die derzeit viele warme Worte aus der Politik zu hören bekommen, Worte, an die sich später niemand mehr erinnern wird. Der Appell an die Solidarität preist das ein.

Wenn alles vorbei ist, wenn die Länder und die Menschen in Trauer sind, wenn die Öffentlichkeit aufbereitet, wenn Schuldzuweisungen hin- und her geschoben werden, wenn Bundesverdienstkreuze vergeben werden, dann, wenn alle wissen, was man alles hätte besser, früher, später, anders machen können. Dann kommt die Zeit, wo unter der Hand das Haushaltsdefizit plötzlich wieder der Menschheit größtes Übel ist, wo die Ökonomie angekurbelt werden muss, damit Steuern reinkommen und Dividenden ausgeschüttet werden können, mit anderen Worten: Dann werden wir (fast) alle den Gürtel enger schnallen müssen, für „unsere Wirtschaft“.

Was plötzlich alles möglich ist!

Umso wichtiger ist es, der Erfahrungen der Krise gewahr zu bleiben. Zwar hat die Pandemie in einigen Ländern zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht einmal ihren Höhepunkt erreicht. Aber die Kämpfe der Menschen, die derzeit am meisten zu leiden haben, sind bereits in vollem Gange: Proteste von Arbeitern für die Schließung nicht-systemrelevanter Produktionen, für mehr Schutzkleidung, für Lohnfortzahlung und höheres Kurzarbeitergeld, Kämpfe für ein Grundeinkommen, für das Aussetzen der Mietzahlungen, für die Unterbringung von Geflüchteten und Obdachlosen in leerstehenden Hotels, all das sind zwar Kämpfe mit dem Rücken zur Wand, sie demonstrieren aber die existenzielle Abhängigkeit von elementaren Lebensbereichen wie Gesundheit, Wohnen, Strom oder Wasser, kurz: lebensnotwendige Infrastruktur. Sogar der französische Staatspräsident und ausgewiesene Neoliberale Emmanuel Macron hat bei der Verkündung der Ausgangssperre gesagt: „Die kostenlose Gesundheit, unabhängig vom Einkommen, Stellung und Beruf, unser Sozialstaat sind keine Kosten oder Lasten, sondern wertvolle Güter, unverzichtbare Trümpfe, wenn das Schicksal zuschlägt. Diese Pandemie hat jetzt schon deutlich gemacht, dass es Güter und Dienstleistungen gibt, die außerhalb der Marktgesetze gestellt werden müssen.“

Das hätte zur Folge, dass ökonomische Effizienz nicht mehr länger die größtmögliche Steigerung privater Kapitalrendite bedeuten darf. Vielmehr dürfte nur noch als effizient gelten, wenn die Ergebnisse unser aller Arbeit nicht nur unter guten Bedingungen hergestellt werden, sondern auch allen zugutekommen, sodass Armut an Einkommen, an Zeit, intakter Umwelt, an kultureller Teilhabe ausgeschlossen ist. Dazu gehört auch, dass Gesellschaft auf unvorhergesehene Ausfälle und Krisen gut vorbereitet ist, das heißt, Kapazitäten vorgehalten werden.

Die staatlichen und wirtschaftlichen Notfallmaßnahmen in der Corona-Krise tragen den Charakter einer am Bedürfnis orientierten Regulierung von Produktion und Konsumtion, zuvorderst im nationalen Rahmen. Diese Maßnahmen werden sich möglicherweise tief in die kollektive Erinnerung einschreiben, als ein großer Aha-Effekt: Was alles geht, wenn’s drauf ankommt! Genau deshalb darf man sich auf einen erbitterten Deutungskampf einstellen. Wird all das später als krisenbedingte, historische Ausnahme verworfen oder kann die Erinnerung an das, „was geht“, genutzt werden für die „Ausweitung der Kampfzone“ und vor allem für eines: Für eine längst fällige gesellschaftliche Debatte darüber, wie und zu welchem Zweck wir eigentlich künftig miteinander produzieren wollen.

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Herzlich Willkommen. Hier schreibt Sabine Nuss, Publizistin und Autorin, über die Welt des Kapitals, über Arbeit und Natur, über das Privateigentum, aber vor allem: Wie alles mit allem zusammenhängt, wie es uns bewegt, wie wir es bewegen. Manchmal auch über Alltägliches.

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